Ja, ich muss einiges aushalten bei meinem Skipper Peter und könnte ihn manchmal über Bord werfen. Dafür ist die folgende Geschichte ein kleines Beispiel.
Ich hatte mich so gefreut auf die Ranglistenregatta mit Saarlandmeisterschaft in Bosen. Endlich mal eine Regatta, bei der ich nicht geslippt und abgebaut werde, eine lange Fahrt auf dem Trailer machen muss, danach wieder aufgebaut und geslippt werde usw. Diesmal würde die Regatta zu mir kommen und nicht umgekehrt.
So dachte ich, bevor Peter wenige Tage vor dem Start angefahren kam und noch einmal mit mir rausfahren wollte. Offenbar hatte er wieder das Gefühl, dass irgendetwas bei mir nicht stimmt. Er wollte sich auch auf gar keinen Fall bei Anja, seiner Vorschoterin, mit einem Boot blamieren, bei dem nicht alles funktioniert. Diesmal hatte ihn sein Gefühl nicht getäuscht und es kam knüppeldick für uns beide. Zuerst will ich aber eine kleine Vorgeschichte erzählen:
Als ich vor einigen Jahren einen neuen Mast bekam, weil Peter bei einer Clubregatta auf seiner Vorfahrt bestand und den alten Mast im wahrsten Sinne des Wortes geschrottet hatte, war dem Yachtausrüster bei der Bestückung des neuen Mastes ein kleiner Fehler unterlaufen. Er hatte das Seil für das neue Großfall zu kurz von der Rolle abgeschnitten und trotzdem eingebaut. Immer wenn Peter das Großsegel in den Mast zog, musste er, wenn das Segel oben war, die Kausch des Falls mit Gewalt aus der Öffnung im Mast reißen, um sie schnell in die seitliche Hakenleiste einhängen zu können. Jeder andere Skipper hätte das längst geändert, aber meiner hat nur öfter mal eine neue Vorlaufleine angespleißt und es damit gut sein lassen.
Als er aber diesmal das Segel oben hatte, kam wieder dieser schmerzhafte Riss an der Vorlaufleine und dann passierte es: Die Leine brach, das Großfall lief in den Mast zurück und ließ das Großsegel nach unten rutschen, wo es meinen Skipper einwickelte. Der rührte sich einen Moment lang gar nicht, dann schlug er das Segel zur Seite und schaute ungläubig in die Mastspitze. Welch ein Ärgernis wäre das gewesen vor dem ersten Start. In diesem Moment tat er mir fast leid, denn ich ahnte schon, was hier in den nächsten Tagen abgehen sollte.
Zu meinem Glück gab er mir nicht die Schuld und nannte mich auch nicht einen alten, blöden Scheißkahn, denn er wusste wohl, wessen Schuld dieses Malheur war. Schnell rollte er das Großsegel zusammen, paddelte mich in die Box zurück und fuhr nach Hause, um den Trailer zu holen.
Die Abenddämmerung hatte schon eingesetzt, als er nach 116km Fahrtstrecke wieder angerauscht kam, um mich aus dem Wasser zu holen. Das ist mittlerweile alles Routine für ihn und so stand ich kurze Zeit später auf dem Takelplatz an Land. Nachdem er den Mast gelegt hatte, entfernte er die Rollen im Kopfbeschlag, zog das Großfall aus dem Mast und legte es zusammengerollt ins Auto. Wenigstens ist er so schlau und lässt sich ein neues, längeres Fall anfertigen, dachte ich. Es wurde immer dunkler, als er mich gegen Wegrollen sicherte und nach Hause fuhr.
Zwei Tage später war er mit einem neuen Fall und einem langen Fiberglasstab wieder bei mir und legte den Mast auf die Wiese, um den Fiberstab durch das Loch im Kopfbeschlag zu stecken und ihn aus der kleinen seitlichen Öffnung über dem Mastfuß wieder heraus zu bekommen. Ich glaubte schon nicht mehr daran, dass er es schaffen würde, aber nach 45 Minuten Fummelei schob sich endlich ein dünner, gelber Zauberstab aus der Öffnung. Geschafft. Der Rest war für den gelernten Strippenzieher kein Problem. Das neue Fall hatte er in den Mast bekommen, ohne den Kopfbeschlag ausbauen zu müssen und voller Euphorie baute er die Rollen wieder ein. Er war sich seiner Sache so sicher, dass er trotz starkem, böigem Wind den Mast alleine wieder aufstellte. Spätestens jetzt hätte er eine lange Leine am Mast hochziehen müssen, um zu prüfen, ob das neue Fall leicht läuft und vor allem, ob es lang genug war. Stattdessen räumte er seine Sachen weg, lies mich einfach stehen und ging ins Regattahaus Kaffee trinken. Es dauerte recht lange, bis er wieder zurückkam. Offenbar hatte der Wirt zufällig mal Kuchen in der Theke.
Als er mich wieder ins Wasser ließ und in der Box festmachte, hatte auch der Wind zugelegt. Bei den starken Drehern des Windes, die im Bereich der Seglerbasis häufig vorkommen, konnte er das Großsegel nicht in den Mast ziehen und es war auch wieder zu spät geworden für einen Probeschlag. Die Zeit im Caféhaus fehlte jetzt. Peter fuhr deshalb nach Hause und nahm auch den Trailer wieder mit.
Dann eben bis morgen.
Am nächsten Tag kam er von der Arbeit sofort nach Bosen gefahren, um endlich das Großsegel am Mast hochzuziehen und die richtige Länge des neuen Falls festzustellen. Wie immer legte er das Segel auf das Kabinendach, schäkelte das neue Fall an das Segel und zog kräftig an der Vorlaufleine.
Es bewegte sich nichts. Er zog noch kräftiger, die dünne Leine grub sich in seine Hände, aber das Segel rührte sich keinen Millimeter.
Peter setzte sich auf die Backbordducht und starrte mit glasigem Blick vor sich hin. So habe ich ihn noch nie gesehen. Hilflos. Eine gefühlte Ewigkeit lang. Dann senkte er plötzlich den Kopf, schlug sich an die Stirn und sagte leise zu sich selbst: „Was bin ich für ein Arschloch“. Also ist ihm wohl eingefallen, was er verkehrt gemacht hatte. Er stieg auf das Kabinendach, begann etwas zu schaukeln, fasste den Mast an und überlegte. Mir begann es, eiskalt den Rumpf runter zu laufen. Der wird doch nicht versuchen, alleine auf dem Wasser den Mast zu legen. Auch hatte der Wind wieder kräftig zugenommen. Das war aber wohl der Grund, warum diesmal die Vernunft über den Leichtsinn triumphierte. Er ging von Bord, ohne sich noch einmal umzuschauen, ließ einfach alles offen und lief zu seinem Auto.
Nach unglaublich kurzer Zeit war er mit dem Trailer wieder zurück. Bei dieser Fahrt werden die Räder des Trailers wohl selten den Boden berührt haben, dachte ich, aber es war nichts passiert.
Als ich wieder auf dem Takelplatz stand und Peter den Mast gelegt hatte, sah er sich in seiner Vermutung bestätigt. Eine Rolle hatte er an der falschen Stelle eingebaut, so dass das Großfall nicht direkt, sondern um eine scharfe Kante in den Mast gezogen wurde. Nach einigen Minuten hatte er den Umbau abgeschlossen, prüfte jetzt endlich die Leichtgängigkeit des Falls und legte mir den Mast wieder auf das Kabinendach. Der Wind war noch böiger geworden und jetzt wäre es besser gewesen, einen Kaffee trinken zu gehen, danach ein paar Helfer zu organisieren und dann den Mast zu stellen. Aber mein Einzelkämpfer mit dem ausgeprägten Hang zum Leichtsinn dachte gar nicht daran. Er wuchtete den Mast hoch und bekam ihn auch gleich mit dem Mastfuß in die Führungsschiene. Als er nach dem Vorstag griff, um es am Bugbeschlag zu befestigen, wurde es von einer starken Böe zur Seite geweht. Anstatt den Mast zu halten und abzuwarten, versuchte er das Vorstag zu greifen und verlor die Balance. Der Mast fiel zur Seite und krachte mit dem Topp auf die Straße. Peter war wohl einen Moment lang benommen, nachdem er mit dem rechten Knie in die Führungsschiene gefallen war und blutete wie nach einem Fahradsturz. Jetzt kamen von allen Seiten die Helfer angelaufen, die er hätte fragen können. Der Mast hatte zum Glück nur ein paar Schrammen abbekommen und der Verklicker war verbogen. Zusammen mit den Helfern konnte Peter den Mast wieder aufstellen und als er das Vorstag am Beschlag befestigen wollte, hatte ich das Gefühl, er wolle mich kraulen, um mich zu beruhigen. Aber es waren nur seine zittrigen Finger, die nicht mehr in der Lage waren, den Schäkel unter Last zu befestigen. Das machte dann einer der Helfer und danach stand der Mast wieder. Der verbogene Verklicker konnte ihm bei der Regatta nichts mehr verklickern, aber das war Peter jetzt egal. Mit einem großen Pflaster aus der Bordapotheke, das er sich auf das rechte Knie klebte, stoppte er die Blutungen, denn mein Deck und die Plicht sahen mittlerweile aus, als wäre hier etwas passiert. Dass etwas passiert war, merkte ich beim Rückwärtsfahren um die Kurve auf die Slipbahn, denn obwohl das für Peter nie ein Problem war, brauchte er diesmal drei Anläufe, bis ich wieder in meinem Element war. Nachdem er mich in der Box festgemacht hatte, setzte er sich ins Cockpit und blieb ganz ruhig. Das schönste Boot am Steg sah schlimm aus. Auch Peter sah so alt aus, wie er eben ist. Heute ging nichts mehr bei ihm, aber am nächsten Tag hatte er nach kurzer Zeit alle Kampfspuren an mir beseitigt. Er humpelte auch nicht mehr, es konnte also losgehen. Morgen ist Regatta. Von Seglern sagt man ja, dass sie nicht unbedingt verrückt sein müssen, doch helfen würde es schon. Mein Skipper ist verrückt und deshalb möchte ich keinen anderen haben.
Marilyn